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 Zurück auf der Insel

„Ich gehe mit den Kindern nach Kurum ins Nachbardorf. Elisa will mit“, rufe ich Frank zu, der auf dem Weg ist, das Internet der Insel zu prüfen. – „Alles klar.“ Der Weg durch den Busch ist grandios.

 

Filip findet ein Blatt, so groß wie er selbst, und balanciert es grinsend auf seinem Kopf. Elisa streichelt Filip mit ihren Augen. Sie scheint seine Wünsche oder sein Stolpern vorahnen zu können und ist oft bei ihm, reicht ihm etwas oder fängt ihn auf, bevor ich dazu in der Lage bin. Wir kommen an einer Wasserstelle vorbei und sehen Frauen und Kinder mit vielen kleinen Flaschen und Kanistern Wasser holen. Etwas weiter waschen sich einige Männer in einem glasklaren Naturbecken.
„Hier dürft ihr keinen Dreck machen, das ist die Trinkwasserstelle von Kurum“, erklärt Elisa. Die kleinen Mädchen, kaum größer als einen Meter, packen ihr Bilum voller Flaschen und winken uns kichernd. An ihren Köpfen hängen mehr als zehn Kilo! „Woher kommt das Wasser?“ frage ich Elisa, die Filip das Wasser probieren lässt. „Aus dem Vulkan. Es gibt auch eine Geschichte. Hier leben zwei Aale, beide richtig groß. Der weibliche Aal wohnt hier, komm ich zeig ihn dir.“ Sie deutet auf eine der riesigen Wurzeln, die ins Wasser ragen und tatsächlich, dieses Tier ist gigantisch und fast weiß. Ein oberarmdicker Aal glotzt uns aus seiner Höhle an. Mira rennt quiekend weg, während Luis sich ruhig nähert.
„No ken tatschim. (Nicht anfassen.) Der Papa Aal wohnt in dem großen Becken, wo die Menschen sich waschen. Er ist ein Masalai (Naturgeist) und hat vor einem Jahr einen Mann aus Kurum getötet. Man weiß nicht, was der Mann gemacht hat, jedenfalls hat der Aal ihn unter Wasser und in die Quellöffnung gezogen.“ Sie deutet auf eine Höhle, die im Wasser liegt und aus der immer wieder Blasen aufsteigen.

Wir gehen weiter und sehen, an einen Baum gelehnt, drei Jungs sitzen, nackt wie sie geboren wurden. Jeder von ihnen ist mit einer Zwille bewaffnet, was hier dazugehört wie bei uns das Schuhe tragen. Ein kleines Feuer qualmt vor ihnen. Als ich genauer hinsehe, entdecke ich eine tote, wunderschöne, smaragdfarbene Eidechse in der Hand eines Jungen. Während er mich freundlich angrinst, bietet er mir die Eidechse an.
Elisa lacht: „Kaikai (Iss)“, während Filip sich schnell das Tier greift.
„Halt Filip, der Junge will sie essen. Gib sie ihm zurück!“, interveniere ich.
Mit schneller Hand holt er sie sich wieder und wir schauen, wie er abbeißt und sie an seine Kumpel weitergibt. Wir Waitskins (Weißen) schütteln uns innerlich und beobachten gebannt das ungewöhnliche Mahl.
Luis sieht Elisa an: „Esst ihr auch Schlange?“, fragt er stirnrunzelnd.
„Viele essen Schlangen, ich nicht! Einmal hat meine Mutter einen Topf voll Suppe am Haken über dem Feuer gekocht. Als wir essen wollten, hat sie eine riesige Schlange mit raus geschöpft. Ich bin aus dem Haus gerannt und habe gekotzt. Die Schlange muss in den Topf gefallen sein und meine Mutter hat es nicht bemerkt. Mein Vater war bel hat (Bauch heiß = sauer) und hat sie geschlagen“, erzählt sie lachend.
Auf dem Weg frage ich sie, ob sie verheiratet ist.
„Mein Mann ist tot. Er wollte nach Bagabag mit dem Speedboot fahren, aber das Boot ist gekentert. Nur der Skipper hat überlebt. Man hat ihn nie gefunden, das ist schlimm für mich. Mein Papa ist auch tot, er ist im gleichen Jahr von einem Stein bei einem Erdrutsch erschlagen worden“, erzählt sie erst traurig, dann lacht sie. Sie erzählt noch von einem Sohn und verschweigt mir die drei anderen, die auch andere Väter haben.
Elisa – alles einfach, alles easy. Wir gehen zusammen, vertraut wie zwei alte Freundinnen, als hätten wir uns schon alles erzählt und genießen jetzt still unser Zusammensein. Meine Neugier, alles über diese Frau zu erfahren, wie sie geheiratet hat, wo sie ihre Kinder bekommen hat, wie sie aufgewachsen ist, was sie liebt und was ihr Angst macht, ist weg, wie gestohlen oder eher satt von den ‚Ohne-Worte’-Botschaften und sollte nicht mehr so richtig wiederkommen.
Immer wieder wird mich Elisa mit kleinen Portiönchen Lebensgeschichten geschickt füttern, um den aufflammenden Hunger in mir zu stillen, aber eigentlich lehrt sie mich, dass der Augenblick alles ist.
Nie wird sie mich nach meinem Leben vor unserer Begegnung fragen. Für sie bin ich in ihrem Jetzt, eine Frau ohne Vergangenheit.

Sind wir schon Trubel um uns gewöhnt, toppt unsere Ankunft im Dorf unsere Erfahrungen.
Kreischende Kinder um uns, Erwachsene, die uns zu rufen und winken, uns nach unserem Weg fragen, wer wir sind, und uns durch ihr Dorf begleiten.
So stehen wir auf dem Dorfplatz, der eingefasst ist von wunderschön gearbeiteten Hütten aus Palmenblättern und Bambus, umringt von liebevoll angelegten Blumengärten. Schwarze Schweine liegen grunzend unter den Häusern, ein paar magere Hunde streunen umher und überall sind Kinder! Was man nicht sieht sind Autos, Fahrräder, Antennen auf den Dächern und Gardinen vor den Fenstern.

Erst ist es Mira nicht wohl, dann macht sie plötzlich aus ihrer Last eine Tugend und fängt an, die Kinder zu jagen. Mira, die, seit sie sich koordiniert bewegen kann, morgens aufsteht um in eine olle zu schlüpfen, wie andere in ihre Klamotten, befindet sich gerade in der Dinosaurier-Phase. Sie flitzt in Utaraptor-Manier auf Zehenspitzen, mit Fingern zu Klauen geformt und filmreifem Gebrülle den vor Vergnügen und Entsetzen kreischenden Kindern hinterher.
Luis ärgert sich einen Augenblick über seine Schwester, um dann als Tyranno die auseinander
stobende Menge von der anderen Seite einzukreisen.Luis ärgert sich einen Augenblick über seine Schwester, um dann als Tyranno die auseinander stobende Menge von der anderen Seite einzukreisen.
Ich bade im Lachen und blicke immer wieder zu den Häusern und dem Vulkanberg, der sich majestätisch hinter dem Dorf erhebt.
Südseekitsch.
Es gibt kein Medium, um diese Schönheit festzuhalten, ich spüre nur die Faszination, die Glückseligkeit und weiß, die Insel hat mich, es ist um mich geschehen!

Wir werfen uns noch in Kleidern in den warmen Pazifik und schlendern am Strand zurück.

Als wir an zwei Häusern, die direkt am Strand gebaut sind, vorbei kommen, staune ich über die Haufen von leeren Klappmuscheln, die im Sand liegen. Manche haben einen Durchmesser von einem halben Meter und sind wunderschön.
„Warum liegen hier so viele Muscheln?“, frage ich Elisa.
„Die wurden gegessen. Aber du musst den Kindern sagen, dass sie die im Wasser nicht anfassen dürfen! Wenn die zugehen und ein Fuß ist drin, ist er ab oder du ertrinkst.“
„Und was machen sie mit den Schalen?“
Nating. Dromoi tasol (Nichts. Wegwerfen)“, lacht sie.
Ich gehe weiter, um zu schauen, ob jemand am Haus ist. Da bemerke ich, dass viele Menschen im Schatten der Bäume auf dem Boden im Sand sitzen, den Rücken zu uns gewandt und einem Mann zuhören, der laut zu ihnen spricht. Unheimlich. Das muss mindestens ein Dorfprozess sein oder eine Mitgiftverhandlung. Leise ziehe ich mich zurück und beobachte gespannt die Szene. „Elisa, was machen die da?“ Elisa lacht: „Bingo spielen!“

Unser Stück Strand ist schon in Sicht, wir müssen nur noch vorbei an einer recht großen Landebrücke zwischen Kurum und Gaubin, an der früher, als die Insel in ‚kapitalistischer’ Blüte stand, regelmäßig größere Frachtschiffe angehalten hatten, um der Fahrradfabrik und den vielen Geschäften der Weißen Ware zu bringen. Doch als wir näher kommen, erschrecke ich. War die Brücke früher beliebter Treff- und Angelpunkt gewesen, sehen die Holzbohlen jetzt aus wie verbrannte, angeknabberte Salzstangen. Kein Mensch, der sich seine Zigarette dreht, Ukulele spielt oder die Einsiedlerkrebse an den Haken friemelt.
„Was ist denn hier passiert?“, frage ich bestürzt.
Ol putim faia. (Sie haben Feuer gelegt.)“
„Warum?“
„Ein Mann aus Kurum hat geangelt. Ein fremder Hund hat ihm einen Fisch gestohlen, da hat er den Hund genommen, in einen Sack gesteckt und ins Wasser geworfen. Der Besitzer des Hundes war so wütend, weil sein Hund tot war, dass er die Brücke abgefackelt hat.“
„Aber die ist doch für alle da. Waren die in Kurum nicht sauer?“
Sie zuckt gelangweilt mit den Schultern. „Mi no save. (Weiß ich nicht.)“
So ist es, die Dinge kommen, die Dinge gehen.

 


 

Auszug aus:

Zurück auf der Insel
oder Ende des Welpenschutzes