lp-01.jpgRauschende Ohren

Es regnet in Strömen, als am nächsten Morgen der verschlammte Krankenhauswagen vor der Türe hält und mich einsammelt. Ich bin aufgeregt und friere, als ich in das vergitterte Auto steige.

 

Der Fahrer sieht cool aus, obercool mit seiner Sonnenbrille, seinem schwarzen Bart, an den er Perlen gehängt hat, seinen Rastalocken, die zusammengebunden schwer auf seinem Rücken liegen.
Er nickt mir kurz zu und macht sich auf den Weg den Berg runter. Unterwegs hält er an und sammelt die unter Bananenblättern laufenden Menschen ein, die behände auf die Ladefläche springen.
Als wir bei einem kleinen Laden vorbeifahren, klopft es so blitzgleich auf das Autodach, dass ich zusammenzucke. Sofort hält Rastaman an. Eine Hand reicht ihm zwei Betelnüsse als Dank herein, er nickt nur wieder und weiter geht es, bis wir in das Krankenhausgelände einbiegen und vor dem Verwaltungsgebäude stehen bleiben. Ich bedanke mich, er nickt, knackt eine Buai und lässt mich stehen, Mr. Cool hat Pause.

Ich halte nach weißen Gesichtern oder Kitteln Ausschau und friere bei 20 Grad. Auch die Niuginis laufen in Anoraks und mit gebeugten Köpfen an mir vorbei.
Das Krankenhaus ähnelt dem auf Karkar, scheint aber einen Tick größer zu sein und sich in einem besseren Zustand zu befinden. Es ist ein Krankenhaus mit gutem Ruf. Viele Menschen nehmen tagelange Fußmärsche oder Bootsfahrten auf sich, um sich hier behandeln zu lassen.
Die Morgensitzung ist schon vorbei, der Wagen hat mich wohl wegen des Regens spät abgeholt und so suche ich die Stationen ab, bis ich einen Arzt entdecke, der mit der Krankenakte in einem mit Frauen gefüllten Krankensaal an einem Bett steht. Es ist Hannes, der mit uns und seiner Familie aus Lae hier her geschaukelt war.
Als er mich sieht, winkt er mich zu sich. Er unterbricht seine Visite, um mir das Krankenhaus zu zeigen.
Zurück auf der Station fragt er mich doch tatsächlich, ob ich die Visite weitermachen wolle.
„Das kann ich noch nicht, ich kann mich doch gar nicht verständigen. Außerdem muss ich erst einmal schauen, was hier so Standard ist, was es an Medikamenten gibt und so weiter. Du bist echt lustig. Hast du etwa gleich mit Visite losgelegt?“ Ich kann es nicht glauben.
„Ja klar. Aber macht nichts, lauf dann einfach mit. Was hast du vorher gemacht?“
„Ich war auf der Frauenstation.“
„Oh, das ist gut, wir sind nämlich alle keine Gynäkologen. Kannst du uns eine vaginale Hysterektomie (Gebärmutterentfernung) beibringen? Wir haben zwei Frauen mit Prolaps (Gebärmuttervorfall)?“
Ich versinke in mir und meine Ohren fangen an zu rauschen.
„Nein, ich habe noch keine allein operieren dürfen. Von abdominal (vom Bauch aus) könnte ich sie herausnehmen.“ Jetzt lehne ich mich aber weit aus dem Fenster raus.
„Das können wir auch. Schade!“, antwortet er kurz. Er ist kein Typ, der lange bei den Dingen weilt. Ist nicht? O.k., abgehakt.
Er gibt einem Pfleger eine kurze Anweisung und wendet sich wieder mir zu:
„Aber im Kreißsaal haben wir eine Frau, die kannst du dir gleich mal anschauen. Da geht es mit der Muttermundöffnung nicht richtig vorwärts und wir wissen nicht so recht, ob wir noch warten sollen oder nicht. Komm mit.“
Auf dem Weg schimpfe ich innerlich mit mir und schicke Suchtrupps los, um das geflüchtete Selbstvertrauen aufzuspüren. Einsperren werde ich es dann mit dicken Eisenkugeln an den Beinen. Ich hab doch was gelernt, jetzt zeig doch mal, was du drauf hast, und bleib souverän. Wie oft haben Ärzte keine Ahnung, aber dicke Backen vor den Patienten. Ein bisschen Show gehört dazu.
„Hier ist es.“
Auch hier die berühmte Schwingtür in den Kreißsaal!
Cool bleiben, meine Sporen klappern, die Colts schmeicheln in den Händen, steile Falte auf der Stirn, mein lebenserfahrener Blick unter der Hutkrempe erfasst die Szene und ich lasse geschockt meine imaginäre Kippe aus dem Mundwinkel fallen. Grotesk.

Da hängt eine nackte Frau, schweißnass, mit völlig verzweifeltem Gesicht an einem Seil, das von der Decke herab baumelt, als wolle sie an einer Liane den Fluss überqueren. Die Hände krallen sich an das Seil und mit unendlicher Anstrengung versucht sie, ihren schweren Bauch und ihre angewinkelten Beine in der Luft zu halten. Immer wieder rutscht sie ab und gleitet auf die Knie, greift wieder nach oben in stummem Eifer, es richtig machen zu wollen, und zieht krampfhaft ihre Beine nach oben, bis sie über dem Boden schwebt und sanft hin und her schaukelt.
Eins ist sicher, sie handelt nach Anweisung und – das Gebärseil ist hier so nicht erfunden worden.
Sicher ist auch, würde die Frau im Busch gebären, würde sie es instinktiv richtig machen und in einer Wehe nach einem Ast greifen, der sie hält, wenn sie in die Hocke geht.
„Na, so kann auch niemand ein Kind bekommen“, entfährt es mir. „Das ist ja, wie bei ‚Spiel ohne Grenzen’.“
Ich bereue sofort meine Worte und frage schnell nach dem Geburtsverlauf, während ich zu der Schwangeren gehe und versuche, ihr das Seil abzunehmen.
„Das wievielte Kind ist das?“
„Das fünfte“
„Und wie lange hat sie schon Wehen?“
„Seit sechs Stunden hat sie gute Wehen. Der Muttermund ist auf acht Zentimeter geöffnet, aber der Kopf rutscht nicht ins Becken.“
Wie auch auf Karkar gibt es hier kein CTG (Wehenschreiber), die Herztöne des Kindes werden mit dem Holzhörrohr kontrolliert. Noch kann ich mir nicht vorstellen, dass ich dieses Gerät nicht mehr vermissen werde und später auch nie eines haben will.
„Wie waren die letzten Herztöne?“
Der Kollege fragt die etwas abseits stehende Schwester und antwortet: „Normal bei 140.“
Die Frau sitzt auf dem nackten Fliesenboden und wimmert vor Erschöpfung.
Meine Intuition ruft mir zu, dass eine normale Geburt hier nicht möglich sein wird, aber erst mal nachschauen. Ich untersuche sie auf einer Pritsche und fühle den kleinen Kopf weit oben im Becken. „Sobald die Herztöne o.k. sind, würde ich die Frau ein paar Wehen lang auf die linke Seite und dann auf die rechte Seite drehen. Wir können in einer halben Stunde nochmal kontrollieren. Wäre gut, wenn die Kindestöne engmaschig kontrolliert werden.“

Im Hinausgehen frage ich, wie viel Kaiserschnitte sie machen würden. „Na ja, eigentlich soll man in einem Entwicklungsland unter 5 % (in Deutschland bei 20-30%) bleiben, da wir aber viele komplizierte Geburten haben, liegen wir etwas drüber.“ Wir gehen weiter durch die Frauenstation und ich verfolge still und in Trockener-Schwamm-Manier die Visite.
Der Kollege ist unglaublich nett zu den Frauen. Neben normalen Wöchnerinnen liegen Frauen mit Totgeburten, Eileiterschwangerschaften, Sterilisationen, Fehlgeburten. Überall stehen Töpfe rum, wuseln Kinder durch die Reihen, tauchen Köpfe unter den Betten hervor, die Station brummt. So auch mein Kopf, der alles behalten möchte, was er hört und sieht, und doch werde ich von Bett zu Bett scheinbar kleiner.

Als wir die Station wechseln und auf die Chirurgie gehen, schrumpfe ich weiter. Ich sehe mir Verbrennungen an, Knochenbrüche, riesige Geschwüre und bin mir sicher, dass ich all das nie lernen werde. Als ich dahin komme, dass ich mich hier noch nicht einmal im Kreißsaal mehr sicher fühle, bin ich beim Schnuller angelangt. Mein Kopf ein leeres Buch, ich warte auf die nährende Brust, die Hand, die mich wickelt und mich auf die Füße stellt.

Zurück im Kreißsaal erwachen meine Geister und ich untersuche die Frau, die auf der Pritsche liegt und schreit: „Mi less, mi leeess!! Katim mi, katim miiiii. Pliis dokta mi nogut strong, helpim mi! (Ich kann nicht mehr. Schneide mich, schneide mich! Bitte Doktor, ich hab keine Kraft mehr, helfe mir.)“ Ich fühle den Kopf, er hat sich nicht bewegt. Ich sehe meinen Kollegen an, schüttele den Kopf und sage: „Ich würde jetzt schneiden. Wie sind denn die Herztöne?“ Ich sehe, wie Hannes Gesicht sich verändert, und plötzlich liegt Hektik in der Luft.
„Die liegen wohl schon länger bei 70. Sie meinen, sie haben uns nicht gefunden, um Bescheid zu sagen. O.k., dann los! Willst du operieren?“
Ich zögere, gewinne einen Sekundenschweinehundkampf und nicke:
„Wenn du mir hilfst?“
Hannes lacht: „Nur Mut. Was meinst du, wie es mir ging, als ich meine erste Geburt hier hatte!“
Jetzt geht es los. Die Patientin wird einen langen Gang hinunter geschoben und auf den OP-Tisch gelegt. Wir waschen uns die Hände, gehen barfuß zu dem Tisch, auf dem alles bereit liegt, und ziehen uns selbst sterile Kittel und Handschuhe an.
Es ist ein kleiner Junge, den wir raus ziehen, grün und schlapp, er hängt auf meiner Hand wie ein nasser Feudel. Während der eine abnabelt, saugt der andere Mund und Nase frei von dem grünen Schleim. Die Prozedur entlockt dem Frischling noch immer kein Zucken, kein Regen. Hannes lässt alle Instrumente fallen, eilt um den OP-Tisch herum, nimmt den Leblosen und fängt an, ihn mit einem Beatmungsbeutel zu beatmen. Oft hilft diese Starthilfe Wunder und die Kleinen, die noch nie zuvor Atmung ausprobieren konnten, legen los und saugen den rettenden Sauerstoff in die Lungen. Nach der Abnabelung tickt die Zeitbombe. Fünf Minuten, steht auf dem Auslöser, bis das Hirn geschädigt ist.
Mi nidim Oxygen (Ich brauche Sauerstoff)“, ruft er in den Raum.
Eine große Gasflasche wird herein gefahren.
Die Frau blutet stark und so versuche ich, mich wieder auf mein kleines, grünes Rechteck zu konzentrieren, die Ohren nach hinten zu dem Kind gerichtet, groß wie von einer Fledermaus. Es sind immer Ewigkeiten bis zu dem ersehnten ersten Luftschnappen oder Wimmern eines Babys.
Zeit ist so relativ, mal fühlt man die Sekunden in hyper slowmotion, wie bei einem Autounfall vor Jahren. Das Auto ist sekundenschnell den Bergabhang runter gekullert, aber wir Insassen haben einen anderen Film gesehen, ein Auto, das sich langsam zur Seite neigt, wir haben die Bäume gezählt, die Lichtkegel beobachtet, die zwischen den Bäumen irrten, den langsamen Herzschlag gespürt, der in der Brust galoppierte, haben das Splittern des Baumes, der das Auto zum Stehen brachte, wie ein endloses Klagelied gehört – Filmriss.
Und dann sitzt man über einer Prüfungsfrage und denkt scheinbar einen Augenaufschlag nach, während der Uhrzeiger sich währenddessen mit Mordsgeschwindigkeit vorwärts geschummelt hat und das ‚Bitte Unterlagen abgegeben, die Zeit ist um’ nur ein schlechter Scherz sein kann.
Ich zwinge mich, nicht dauernd nach hinten zu schauen. Der kleine Schrei, der endlich kommt, läuft an mir herunter wie warmes Öl. Hannes wechselt die Handschuhe und stellt sich wieder zu mir.
„Alles gut!“
Plötzlich hält Hannes inne und sieht mich an: „Wir haben etwas vergessen!“
„Was?“
„Sie zu sterilisieren.“
„Oh, das wusste ich nicht.“ Ich zögere: „Hat sie das gesagt?“
Ich muss wieder an Indonesien denken. Kaum war die Frau in Narkose, wurde eine Schwester zum wartenden Ehemann vor die Tür geschickt, um die Erlaubnis zur Sterilisation zu bekommen. Einmal habe ich nachgehakt, ob der Arzt die Frau denn auch nach ihrem Wunsch befragt hätte. „No, why?“, antwortete er ohne rot zu werden. Alles klar!
„Was denkst du denn!“, empört sich Hannes zu Recht, „Zwangssterilisation wie bei den Aborigines in Australien?“
Ich erzähle von Indonesien, lasse mir die Sterilisation zeigen und verschließe den Bauch. Bei den letzten Zentimetern Hautnaht fangen meine Hände an zu zittern und ich friere – in dem kalt gewordenen Fruchtwasser stehend – meine Anspannung weg.
Umziehen, alles ist nass, Blut und was nicht alles klebt auf meinem Bauch und Beinen. Es gibt keine Dusche und so reibe ich alles flüchtig ab, hieve meine Füße über das Waschbecken, schrubbe und eile zu dem Kind, das noch mit Sauerstoffschlauch in der Nase in einem Gitterkörbchen liegt.
Es ist zu einer Wurst zusammengewickelt mit schön rosigen Lippen, offenen Augen und schmatzt vor sich hin auf der Suche nach der Brust. Schön.
Ich schiele auf die Uhr, es ist halb eins. Mir reicht es für heute. Gleich werde ich sagen müssen, dass ich als halbe Ärztin...
Meine Gedanken legen sich alles zu Recht: ‚…klar, ich brenne darauf, hier den ganzen Tag zu lernen, aber leider muss ich immer mittags zu Hause sein. Warum? Weil meine Kinder warten oder Frank ja auch noch in seinen Job eingeführt werden möchte, noch besser, mein Pidgin-Lehrer, genau, der wartet auch schon!’
Mein Anliegen, jetzt gehen zu wollen und das jeden Tag, bewirkt eine eindeutige Gesichtsveränderung bei Hannes, wie ein kühler Schleier, der sich darüber zieht. „Wenn du meinst! Es ist halt schwierig, dadurch, dass ihr auf dem Berg wohnt, kann ich dich bei einem Notfall nicht eben mal rufen. Aber du musst schon wissen, was du tust. Im kleinen OP liegt noch ein totes Baby, was gerade geboren wurde, vielleicht können wir uns das noch anschauen bevor du gehst.“

Während meines ganzen Studiums habe ich um spätestens ein Uhr die Löffel fallen lassen, um bei den Kindern zu sein, so klein, wie die da noch waren. Ich müsste eigentlich schon ein dickes Fell haben und trotzdem brennt der alte Ärger in mir.
Ich gehe mit und schweige mich aus.
Mit einem Mal habe ich keine Lust mehr, keine Lust auf schlechtes Gewissen, keine Lust auf diesen Spagat, keine Lust, weder Top-Mutter noch Top-Ärztin zu sein, keine Lust, keine Zeit zu haben, mal was nachlesen zu können. Keine Lust, mir noch irgendetwas Neues anzuschauen.

Auf der Schrankablage liegt das Baby in ein weißes Tuch gehüllt. Hannes wickelt es aus. Die Haut des Babys verrät uns, dass es schon länger im Bauch verstorben sein musste, denn sie löst sich an vielen Stellen ab und hinterlässt unschöne rote Flecken. Hannes atmet auf. „Da hätten wir nichts tun können“, murmelt er.
„Was war da los?“, frage ich nach.
„Die Frau hat ihr Kind nicht mehr gespürt und sich vor drei Tagen auf den Weg hierher gemacht. Die ganze Strecke über die Berge ist sie gelaufen. Das wäre ihr siebtes gewesen. Ich werde sie gleich mal fragen ob wir sie nicht sterilisieren sollen. Also, dann viel Spaß beim Pidgin lernen, bis morgen!“